Dass der Weiler von Alt-Wollishofen, der vor allem durch die Widmerstrasse mit dem Ortsmuseum gebildet wird, Erdbrust heisst – was heute kaum mehr einer weiss –, haben wir schon im ersten ERDBRUST-Blogbeitrag erfahren (erschienen am 9. April 2021). Einst waren die Ortsbezeichnungen Wollishofen und Erdbrust fast äquivalent. Wäre Erdbrust etwas zentraler gelegen, hätte das ganze Gebiet von Wollishofen damals leicht unter den Namen «Erdbrust» kommen können, bildete diese im «Mittelalter» doch «eine eigene Vogtei», wie es in einer Alten Chronik heisst*. Diese Vogtei gehörte den Freiherren von Eschenbach; sie ging 1304 für «40 Mark Silber» an den Adligen und Zürcher Bürger Rüdiger Maness.
Heute ist Erdbrust auch deshalb interessant, weil der Begriff zwar fast verschwunden, das bäuerliche Wollishofen aber fast nur noch hier wirklich greifbar ist: nicht zuletzt wegen des letzten Bauernhofs, des Schipferhofs. Aber auch wegen der schönen, denkmalgeschützten Fachwerkbauten, alten Weinbauernhäusern wie z.B. dem Hornerhaus, dem Ortsmuseum.
Wie weit Häuser am Seeufer gegen Kilchberg und die Widmerstrasse den Berg hinauf zum Weiler Erdbrust gehörig empfunden wurden, ist nicht genau bekannt. Aber 1429 rechnete ein Rüeschliker namens Oswald Scheller seinen Weinberg oberhalb des Horns, also direkt an der Grenze zu Kilchberg, noch zur Erdbrust**. Und sicher gehörte die Kreuzung Widmer-/Kilchbergstrasse zur Erdbrust, und ebenfalls das einfache, aber sehr typische Wollishofer Bauernhaus, gleich oberhalb dieser Kreuzung, an der Widmerstrasse 28 – abgerissen 1964.

Verschwundener Zeuge der alten Erdbrust: Widmerstrasse 28, Foto 1964, vor 1800 erbaut, 1964 abgerissen. Im Hintergrund das Haus "Freihof", Kilchbergstr. 100. BAZ.
Der Weiler Erdbrust geht zurück auf ganz frühe Besiedlung, wies auf jeden Fall schon sehr früh gute (und teuere) Weinberge auf. Es sind einige alte – spätmittelalterliche – Urkunden erhalten, die den Handel mit diesen teuren Gegenständen betreffen. Eigentlich ging’s damals zu und her wie heute mit Wertpapieren. Der Kauf von Weinbergen war für vermögende Städter und Institutionen so etwas wie eine Finanzanlage. Oft waren auch Klöster in den Handel involviert. Ein Beispiel für einen solchen Handel unter Bürgern sind Conrad Eschwurm von Erdbrust und seine Frau Margaretha. Sie verkauften 1427 «für 50 Pfund Zürcher Pfennig den Brüdern Hans und Cuonrat Suter, Bürger von Zürich, eine halbe Juchart Reben mit einer Wiese sowie je eine Juchart Acker und Holz am Schlindberg»; alles sei «freies Eigen», die Reben lägen «in Erdbrust neben Münchhof».** Was die beiden Stadtbürger mit dem Rebberg vorhatten? Eben: Mit grosser Wahrscheinlichkeit war dieser Handel eine Geldanlage, denn es ist nicht anzunehmen, dass Hans und Konrad Suter aufs Land ziehen wollten, um Winzer zu werden. Vielmehr suchten sie einen Lehensmann, um ihm das Gut zur Bewirtschaftung zu übergeben, zu einem rechten Zins natürlich – eine Geldanlage.
Woher der Name Erdbrust stammt, ist etymologisch relativ sicher geklärt. Es muss sich hier eine Erdrunse, eine Öffnung aufgetan haben. Mit der (weiblichen oder männlichen) Brust hat das Ganze nichts zu tun, wohl aber mit Brust, dem alten Wort für Bruch, Gebrechen. Wo dieser Erdbruch gewesen ist? Wir wissen es nicht. Auch Stauber wusste in seiner Ortsgeschichte von 1926 nichts dazu, was ihn nicht hinderte, 1948 einen Artikel in der NZZ über das Haus Widmerstrasse 1 als «Haus zur Erdbrust» zu verfassen. Seit altersher war dieses Anwesen ein städtischer Landsitz, lange Zeit im Besitze der Familie Landolt, die im 18. Jahrhundert auch einen Zürcher Bürgermeister stellte: Hans Kaspar Landolt (1702-1781). Lange hiess das Haus deshalb «Landolthaus».
Eine alte Kreuzung
Es ist auffallend, dass die Wollishofer Untervögte auch aus der Erdbrust stammten, so im 17. Jahrhundert vor allem Hans Rudolf Hausheer. Er war Vogt von 1658 bis 1673, also 15 Jahre. Bei seiner Wahl dürfte er noch an der Widmerstrasse gewohnt haben, es scheint aber, dass er 1664 ins Haus Zur Hoffnung gezügelt hatte und standesgemäss residierte. Ob dieses Anwesen noch zur Erdbrust gezählt wurde, muss offen bleiben. Später änderten die Verkehrsverhältnisse den Charakter des kleinen Quartiers, zuerst im frühen 19. Jahrhundert der Ausbau der Landstrassen, dann im letzten Viertel des Jahrhunderts die linksufrige Eisenbahn. Hübsch sind solche Entwicklungen an den Veränderungen rund um die Kreuzung Kilchberg-/Widmerstrasse ablesbar: Hier kreuzte eine Quartierstrasse, die die oberen Weiler mit unten, mit dem See, verband, die alte Landstrasse, die den Verkehr von der Stadt am linken Seeufer gegen Süden, gegen Horgen und nach Chur, führte.
Diese Kreuzung – Kilchbergstrasse-Widmerstrasse – ist bis heute speziell geblieben, indem zwei Quadranten noch mit alter Bausubstanz erhalten sind, was dem Ganzen ein provinziell-bäuerliches Gepräge gibt. Einst waren aber alle vier Winkel mit Häusern besetzt, eine anmutige Kreuzung, rechtwinklig, und eben auf allen Seiten besiedelt.
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Ausschnitt Erdbrust, Stadtplan 1913.
Hansruedi Strasser, Ur-Wollishofer und Alt-Zunftmeister, besitzt ein kleines Fotoalbum mit einigen Wollishofer Aufnahmen, vor allem aus dem Quartier Erdbrust. Aus diesem Album zeige ich zwei Fotos mit alten, verschwundenen Häusern, die an der besagten Kreuzung liegen (lagen).

Kreuzung Kilchberg-/Widmerstrasse (Quadrant 1). Aus Strassers Familienalbum.

Kreuzung Kilchberg-/Widmerstrasse (Quadrant 4), einige Jahre "Handlung Knecht". Aus Strassers Familienalbum.
Erdbrust wohin?
Wie sollte sich das Erdbrust-Quartier im Rahmen der Stadterweiterung Zürichs – bis und mit Wollishofen – entwickeln? Die Landstrasse war durch den Ausbau der Seestrasse entlang des Seeufers verlegt, das Ufer durch die unterdessen doppelspurige Eisenbahntrasse vom Quartier weggerückt und entzweigeschnitten; zudem entwickelte sich rasch eine regelrechte «Seesicht-Manie», was die bäuerlichen Liegenschaften, welche die Erdbrust früher ausmachten, bedrohte und verdrängte. An der Zellerstrasse – mit Seesicht – entstanden grosszügige, urbane Villen, angefangen mit Wettsteinstrasse 1, Zellerstrasse 58 und 62, sowie Zum Klopfer (Hoffnungsstrasse 1) – während an der Kilchbergstrasse eher ländliche oder wenigstens an gewerbliche Verhältnisse erinnernde Bauten errichtet wurden, etwa das «Fachwerk-Backstein-Häuschen» Kilchbergstrasse 49, 1887 von Caspar Haupt erstellt, oder das eindrückliche dreistöckige Baumeisterhaus (Kilchbergstrasse 79). Aus ähnlichen Gründen dürften – gottlob – die Flarzbauten an Kilchberg- und Widmerstrasse erhalten geblieben sein.
Drei Szenen im Erdbrust: Kilchbergstrasse 49 und 101 sowie das Haus zum Klopfer, heute längst durch ein voluminöses Mehrfamilienhaus ersetzt.
(SB, FA Burkhard, Sammlung MZ)
Ein Haus, das heute noch steht, zeugt besonders von diesen Entwicklungen: das Haus Kilchbergstrasse 100. Es war ein Kompromiss: bäuerlich und urban. Um 1900 errichtet, als repräsentatives Baumeisterhaus, damals mit einem Restaurant (bzw. einer Wirtschaft) im Erdgeschoss, verbunden mit einer Gartenwirtschaft und der Kegelbahn (die noch bis Ende 20. Jh. von der einstigen Nutzung berichtete). Als Namen wählte man «Freihof» – eine abstrakte Bezeichnung, die keinen lokalen Bezug andeutet. Zu Beginn dürfte das Konzept, eine ländliche Wirtschaft im Erdbrustquartier, als Alternative zu den eher Arbeiter-Wirtschaften bei der Roten Fabrik, am Bach oder beim Morgental, funktioniert haben. Immerhin ist bekannt, dass die bäuerlichen Protagonisten der Zunft Wollishofen im Freihof den Entschluss zur Gründung ihrer Vereinigung tätigten. Doch schon bald endet die Geschichte der neuen, auf traditionell gestalteten Wirtschaft. Später befand sich lange Zeit ein Denner Lebensmittelgeschäft im Haus, heute ist das Haus zum reinen Wohngebäude umgebaut.

Ansichtskarte, um 1900, Sammlung MZ, gelaufen 2.6.1902
Von der ältesten Besiedlung zur bevorzugten Lage mit Seesicht: Das Erdbrustquartier ist eines der interessantesten und wandlungsfähigsten Quartiere Wollishofens. Hier befindet sich bezeichnenderweise auch das Ortsmuseum – als Zentrum dieser bevorzugten und alten Siedlungseinheit.
Sebastian Brändli
* «Denkwürdigkeiten von Stadt und Kanton Zürich» von 1845, S. 175.
** StAZH B VI 304 (fol. 303 v) [1429] und C II 5 No 69 [1427].
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