Heute wohnt Peter Härtli, eigentlich Peider, geboren 1943, mit seiner Ehefrau Doris in Leimbach. Sie beide wuchsen allerdings in Wollishofen auf. Peter kam 1954 als 11-jähriger mit seinen Eltern und seiner Schwester an die Seestrasse 353, in das grosse Jugendstilhaus der Eisenwaren-Firma Pestalozzi (vgl. Blog BAHNHOFSVIERTEL). Sein Vater Carl war gebürtig von Bergün, weshalb der Bub romanisch auf Peider getauft wurde. Man beachte, dass das Bergüner Romanisch Peider «e-i» ausspricht, nicht «ä-i»!
Seestrasse 353, Wohn-/Gewerbehaus. Sammlung MZ. Gelaufen April 1927.
Die Familie kam von Altstetten her nach Wollishofen. Sie zügelte wegen der väterlichen Arbeit an die Seestrasse: Vater Carl arbeitete als Feinmechaniker in der Fabrik MADAS (Seestrasse 356), die Rechenmaschinen herstellte. Dort führte er eine eigene Abteilung, die sich im Hinterhaus der Seesstrasse 289 befand. Aufgabe der Abteilung war die Décolletage, die Sohn Peter so beschreibt: «Dort war der Vater allein für die ca. 20 Drehautomaten verantwortlich, mit denen Kleinteile ab 10'000 Stück gefertigt wurden. Die Drehautomaten hatten Kurvenscheiben, mit denen die Drehstähle automatisch und auf 100stel Millimeter genau an den Werkstoff geführt wurden. Diese Scheiben hatte mein Vater zu berechnen und so exakt zuzuschleifen und einzurichten, dass die Teile gemäss Plan in der geforderten Genauigkeit und termingerecht gedreht wurden. Für kleinere Serien standen ihm 6 Dreher mit ihren Drehbänken zur Verfügung, denen er stets die Arbeiten vorbereiten und sie nachher auch kontrollieren musste.»
Eine Kindheit im industriellen Wollishofen
Die zitierten Zeilen sind Teil eines längeren Berichts von Peter Härtli, den er mir vor kurzem zugeschickt hat. In der Sendung waren auch einige Fotos, vor allem auch Fotos, die er selber als Jugendlicher aufgenommen hat; das Hobby des Fotografierens hatte Peter von seinem Vater «geerbt» – die Familie hatte sogar ein eigenes Fotolabor im Badezimmer eingerichtet. Peter Härtli schreibt: «Wir hatten stets eine einfache Dunkelkammer, die man im Badezimmer einrichten konnte, wo der Vater mir beibrachte, wie man Filme entwickelt und später Bilder davon herstellt. Darum ist meine Jugendzeit relativ gut mit Fotos dokumentiert. Man hat aber sehr sparsam mit dem Material umgehen müssen, denn so ein Film mit 12 Aufnahmen war teuer und musste doch einige Zeit reichen! Während fast alle meine Fotoapparate einmal eingetauscht wurden, besitze ich meine erste einfache Kamera im Format 6x6 cm noch heute.»
Im Bericht und in den Fotos zeigt sich ein interessierter und neugieriger Junge, der uns einen Blick in die Zeit Wollishofens in den 1950ern ermöglicht. Aus Sicht der Lokalgeschichte ist das interessant, weil eben nicht nur an Ereignisse erinnert wird, sondern auch das damalige alltägliche Wahrnehmen und Empfinden in den Vordergrund rücken. Ich treffe Peter Härtli deshalb umgehend zum Gespräch. Ich will auch wissen, was aus dem kecken jungen Fotografen geworden ist.
Seestrasse beim Bahnhof Wollishofen. Aufgenommen von der provisorischen Passarelle anlässlich der SAFFA 1958. Foto: Peter Härtli. Sommer 1958. Privatbesitz.
Fabrikgebäude Albisstrasse 2 / Seestrasse 356
Ein erstes Thema unseres Gesprächs ist der Beruf des Vaters und die Geschichte der Rechenmaschinenfabrik. Es fasziniert die Vorstellung, dass es in Wollishofen in der Zeit vor dem Computer eine global tätige Industriefirma gab, die analoge Rechner höchster Qualität herstellte. Und man kann sich vorstellen, welche Herausforderung die aufkommende Halbleiterindustrie, die Entwicklung des Computers und letztlich die Digitalisierung für den bisherigen Marktführer für Rechner war. Der Niedergang der Firma war negativ verknüpft mit dem Aufkommen des Computers: Je erfolgreicher Univac und IBM waren, desto stärker ging der Markt für Analogrechner zurück. Die Firma MADAS hielt bis Ende 1960er Jahre durch, doch dann war Schluss: «1970 stoppte die Firma H.W. Egli jegliche Aktivität», heisst es (auf Englisch) auf der Homepage www.madas.ch von Gérald Saudan, der diese Industriegeschichte von Wollishofen minutiös aufgearbeitet und auch ein Buch darüber geschrieben hat.*
Vom Industriegebäude an der Seestrasse 356 gibt es eine Ansichtskarte aus der Zeit kurz nach der Jahrhundertwende, als das Gebäude, damals Albisstrasse 2, der Firma Wieser & Cie gehörte, die ihre Lithographieanstalt auch da betrieb. Unsere Firma war «nur» Mieter. Im Adressbuch heisst es: «Egli, Ingenieur. Werkstätte für Feinmechanik». Noch nichts von MADAS.
Zur Ansichtskarte beachte man: Das Gebäude, das heute noch steht, ist von der Kubatur doppelt so gross wie das damalige, wir sehen hier nur die ältere, rechte Seite, die linke Hälfte wurde Mitte der 1940er Jahren angebaut:
Wollishofen, Haus Tivoli und Fabrikgebäude. Foto: Wehrli AG.
Sammlung MZ. Gelaufen 18.4.1917.
Peter Härtlis Foto stammt schon aus den Zeiten von MADAS. Sie hält die Drehautomaten in Vaters Werk-Abteilung fotografisch fest – wunderschön!
Drehautomaten der Rechenmaschinenfabrik MADAS. Vorne links ein neueres Modell, bereits mit Elektromotor, die Maschinen im Hintergrund wurden noch mittels Transmissionsriemen angetrieben. Um 1958. Foto: Peter Härtli. Privatbesitz.
Vom Arbeiten auf dem See und am Ufer
Fasziniert war Peter Härtli aber nicht nur vom Betrieb, in dem der Vater arbeitete. Besonders hatte es dem Jungen auch der nahe See angetan. Einige seiner Wollishofer Fotos sind Schiffen und der Werft sowie der Firma KIBAG gewidmet. Besonders gefällt mir jenes Foto, das den Salondampfer Helvetia kurz vor deren letzten Fahrt, vor Ende Oktober 1958, zeigt. Zum Abschied schrieb die Neue Zürcher Zeitung: «Nach 83 Dienstjahren darf das ehrwürdige Dampfschiff in den Ruhestand treten, es wird nicht mehr als stolze ‚Großmutter‘ einer mächtigen Kinder schar die Wellen durchfurchen. Nur noch vom Ufer aus wird das stattliche Schiff einen Blick auf das wirblige Treiben des sommerlichen Sees werfen, wenn es als Seerestaurant während der nächstjährigen Gartenbauausstellung, sorgsam vertäut, nochmals eine zahlreiche Gästeschar an Bord aufnehmen wird.» Und die Zeitung erinnert an jene Zeiten, als die Dampfschiffe auf dem Zürichsee eine absolute Neuheit waren: «Das war noch anders in der Mitte der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, als die ‚Dampfschiffgesellschaft für den Zürichsee‘ über dreizehn Einheiten verfügte, so etwa über den zu einem Halbsalondampfer umgebauten 'Escher-Linth', über die 'Concordia', die 'Lerche', 'Biene' und 'Taube', den 'Gustav Albert' und den kleinen 'Republikaner'.» (NZZ Samstag, 25. Oktober 1958)
Raddampfer HELVETIA, im Betrieb seit 1875. Aufnahme 1958.
Foto Peter Härtli. Privatbesitz.
Schöne Fotos von Peter Härtli gibt es auch zur Firma KIBAG und zur Werft. Hier ein besonderes Ledischiff der Kiesfirma:
Spezialschiff der KIBAG mit dem aufklappbaren Boden des Laderaumes.
Foto Peter Härtli. Privatbesitz.
Und eine Aufnahme der Werft, die sich damals noch im schopfartigen Querbau befand. Gezeigt wird eine aufgedockte «See-Schwalbe» (vgl. auch Blog DAMPFSCHWALBE):
See-Schwalbe aufgedockt in alter Werfthalle Wollishofen. Foto Peter Härtli. Privatbesitz.
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Was ist aus dem fotografierenden Jungreporter später geworden? Die Frage führt aus Wollishofen hinaus. Peter Härtli entschied sich nach der Beendigung der Schulzeit, Matrose zu werden. Meine Frage auf diese Nachricht war sofort: «Wie wird man in der Schweiz Matrose?» Antwort: in Basel. – Härtli machte eine dreijährige Lehre als Matrose der Rheinschiffahrt und übte den Beruf anschliessend mehrere Jahre aus – nicht nur auf dem Rhein, sondern auch zur See.
Ein Seeunglück und das Militär holten ihn zurück in die Schweiz. Hier ergab sich nach der Rekrutenschule das Interesse, für die Polizei zu arbeiten. Er absolvierte die Zürcher Polizeischule und war sein Lebtag – 38 Jahre – im Dienste der Kantonspolizei in verschiedenen Funktionen tätig – beim wissenschaftlichen Dienst, bei der Abteilung Unfall und bei der Spurensicherung. Bei all diesen beruflichen Aufgaben kamen ihm nicht nur seine fotografischen Interessen, sondern vor allem auch seine handwerklichen Fähigkeiten zu gute. Mit seiner Ehefrau zog er zwei Söhne gross – in Leimbach, wo er auch heute noch lebt.
(SB)
* Gérald Saudan. Swiss Calculating Machines. H.W.Egli A.-G. – A success story. 2017.
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